Wir funktionieren fast ausschließlich auf der Basis von Ich, Mich und Mein. Spirituelle Praxis aber bedeutet: Ein lebenslanges Bestreben, aus der selbstzentrierten Enge auszusteigen und eine viel offenere und weitere innere Haltung einzunehmen. Eine altruistische Perspektive, die möglichst viele oder gar alle Menschen, Lebewesen, Lebensformen mit einschließt. Wenn uns das – sukzessive – gelingen soll, brauchen wir sehr viel Achtsamkeit. Der chinesische Chan-Meister Sheng-yen schreibt:
„Tatsache ist, dass man mit der Praxis nur beschränkt Erfolg hat, wenn man nur sich selbst zu helfen sucht. Das Resultat wird dann am grössten sein, wenn man versucht, für andere von Nutzen zu sein.“
Es ist von großer Bedeutung, dass wir uns in einer respektvollen, nicht-verletzenden, nicht-ausbeuterischen, sensiblen und ehrlichen Lebensweise üben. Vergleichbar mit den Wurzeln eines Baumes, die gesund und stark sein müssen, damit der Stamm, die Äste, die Blätter, die Blüten und letztlich die Früchte heranwachsen und reifen können.
Je tiefer wir im Laufe unser Meditationspraxis den in komplexer Abhängigkeit entstehenden und vergehenden, nicht ergreifbaren Lebensprozess verstehen, desto offensichtlicher wird, dass das Ich-Gefühl, mit dem wir uns immer wieder so tief identifizieren, eine Täuschung ist die uns auf fatale Weise das Gefühl von Abgetrenntheit vermittelt. Zunehmend erfahren wir indes Momente, in denen diese Täuschung durchschaut wird, wegfällt und wir die tatsächliche Verbundenheit mit dem Dasein erfahren.
Die Welt als nicht ergreifbar, nicht festhaltbar zu erfahren, sich selbst und das Dasein als dynamischen Prozess zu erkennen und zu verstehen, ist äußerst befreiend.
Achtsames Gewahrsein muss von heilsamen Absichten motiviert sein. Die Erfahrung der Verbundenheit erlaubt unserem Herzen für Freude und Leid – auch das der Anderen – offen zu bleiben. Liebe und Mitgefühl werden zu natürlichen Motivatoren unseres Seins und Tuns.
Die Dharma-Lehrerin Toni Packer schreibt:
„Staune und Lausche. Das Aufkeimen und Erblühen von Verständnis, Liebe, und Weisheit geschieht von selbst, wenn ein Mensch forscht, neugierig ist, ergründet, schaut und horcht. Wenn die Ichbezogenheit ausgedient hat und verstummt ist, dann sind Himmel und Erde offen.“
Fred von Allmen