1 Ganz offensichtlich gibt es Leiden in der Welt.
2 Wir erfahren es immer dann, wenn unsere Wirklichkeit nicht mit unseren Erwartungen übereinstimmt und wir an der Identifikation mit dem Ego, dem Selbstkonzept, festhalten. Wir leiden also, weil wir über die Natur der Dinge falsche Vorstellungen haben und glauben, dass es im Universum Dinge gibt, die fest und unvergänglich sind. Wir erhoffen uns von diesen Dingen bleibende Befriedigung und sind der Illusion verfallen, dass wir ein inhärentes und beständiges Selbst haben. Doch die Erfahrung zeigt laufend, dass alles unbeständig ist, sich in stetiger Veränderung befindet – auch unser Körper und Geist.
3 Genau darin liegt auch die Befreiung: Wenn diese falsche Sichtweise durchschaut wird und erlischt, erlöschen auch damit die Leid schaffenden Kräfte Gier, Aversion und Verblendung. Und damit wird Befreiung, Freiheit möglich.
4 Um zu dieser Freiheit zu gelangen, gibt es einen Weg, eine Praxis – den Achtfachen Pfad, der uns dahin führt, die falsche Sichtweise zu überwinden und unsere wahre Natur zu erkennen.
Dank der Auflösung der falschen Sichtweise werden wir nicht in ein „Paradies“ ohne jegliche unangenehmen Erfahrungen katapultiert: Alter, Krankheit und Tod bleiben erlebbare Realitäten. Mehr und mehr erkennen wir jedoch, dass dies ein natürlicher Lebensprozess ist und dass es vielmehr unsere Identifikation ist, die Leiden verursacht.
Marcel Geisser
2020
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…Ich bin Teil eines Lebensstroms von spirituellen und leiblichen Vorfahren, der bereits seit Tausenden von Jahren in die Gegenwart fliesst und für weitere Tausende von Jahren in die Zukunft fliessen wird. Ich bin eins mit meinen Vorfahren, ich bin eins mit allen Menschen und allen Arten von Wesen, gleich, ob sie friedlich und furchtlos oder voller Leid und Angst sind.
In diesem Augenblick bin ich überall auf der ganzen Welt anwesend, ich bin auch in der Vergangenheit und in der Zukunft anwesend. Die Auflösung des Körpers berührt mich nicht, gerade so, wie das Herabfallen einer Pflaumenblüte nicht das Ende des Pflaumenbaums bedeutet.
Ich sehe mich als Welle auf der Oberfläche des Meeres, meine Natur ist das Wasser des Meeres. Ich erkenne mich wieder in allen anderen Wellen, und ich sehe all die anderen Wellen in mir. Das Erscheinen und Verschwinden der Form der Wellen macht dem Ozean nichts aus. Mein Dharma-Körper und mein spirituelles Leben sind nicht Geburt und Tod unterworfen.
Ich erkenne, dass ich bereits da war, bevor mein Körper sich manifestierte, und dass ich noch da sein werde, nachdem mein Körper sich aufgelöst hat…Meine Lebensspanne, wie auch die Lebensspanne eines Blattes oder eines Buddha, ist unbegrenzt.
Ich habe die Vorstellung hinter mir gelassen, dass ich ein Körper bin, der in Raum und Zeit getrennt ist von allen anderen Formen des Lebens.
Thich Nath Hanh
Alleinsein und Schweigen erlauben uns, unsere persönliche Welt näher und intimer kennenzulernen. Sie lassen aber auch die eh schon diffuse Grenze zwischen sich und den andern, Innen- und Außenwelt, noch unergründlicher erscheinen. Mit uns allein sein ermöglicht uns, durch Praxis und tiefes Erforschen des Herzens den zutiefst heilenden Zustand des All-Eins-Seins zu erfahren. Mit uns allein sein kann uns aber auch in die Abgründe der Einsamkeit unserer Seele stoßen. Wir können uns zutiefst verbunden fühlen mit dem Leben, den Menschen und der Natur oder völlig isoliert und ausgeschlossen, wie das so oft auch in den anonymen Gemeinschaften großer Städte oder in Menschenmengen geschieht. Immer aber bietet sich in Stille und Schweigen die Gelegenheit, ja, die Herausforderung, an den Wurzeln unseres Selbstverständnisses zu forschen und befreiende Erkenntnisse zu erlangen.
So wie es in der Bhagavad Gita heißt:
“Lehre uns, dass gerade so, wie das Wunder der Sterne im Himmel sich nur bei Nacht offenbart,
sich auch das Wunder des Lebens nur in der Stille des Herzens zeigt.“
Fred von Allmen
Damit wir uns der Freude zuneigen und aus heilsamen Motivationen handeln können, damit wir die Zustände der Freude näher kennen lernen, brauchen wir rechtes achtsames Gewahrsein.
Der Buddha erklärte: „Das Mittel zur Überwindung von Kummer und Sorge, von Schmerz und Angst – das Mittel zur Verwirklichung des höchsten Glücks ist achtsames Gewahrsein…“
Wir müssen unser Herz und unseren Geist konsequent immer wieder der Freude zuwenden, vor allem indem wir uns dem Heilsamen widmen, wollen wir diese Freude in uns fördern. Deshalb ist es empfehlenswert, bewusst die Absicht zu stärken, Freude in sich zu erwecken und zu kultivieren.
Der Buddha betonte: „Worüber wir oft nachdenken, worin wir uns oft aufhalten, dies wird mehr und mehr zur Neigung unseres Geistes.“
Shantideva lehrte: „Ich freue mich an heilsamen Gedanken, tiefgründig und weit wie das Meer, die auf das Glück der Wesen gerichtet sind, und ich freue mich an den Taten, die ihr Wohl verwirklichen.„
Eine weitere Möglichkeit Freude zu entwickeln besteht in äusserlichem Tun. Sport treiben, Wandern, Singen, Tanzen… das schafft Lebendigkeit und setzt Energien in Gang. Sich in der Natur bewegen verbindet uns mit dem Leben, welches wir sind.
Angelius Silesius schliesslich hinterliess uns die Verse:
„Ich bin, ich weiss nicht wer.
Ich komme, ich weiss nicht woher.
Ich gehe, ich weiss nicht wohin.
Mich wundert, dass ich so fröhlich bin!“
vonFred von Allmen
Älter und damit oft leistungsschwächer zu werden, wird oft erlebt als Versagen, wenn nicht sogar als Schuldig-Werden. Wir sind fixiert auf äusseres, nie endendes Wachstum. Dabei könnte das Annehmen und Sich-Bescheiden auf bestimmte äussere Grenzen als Einladung verstanden werden, innerlich zu wachsen und zu reifen.
Nach innen sind uns keine Grenzen gesetzt. Meister Eckhart lädt uns ein, in unseren innersten Grund zu gehen, weil dort unser Leben ist. Beim Sitzen vollziehen wir die Hinwendung zu diesem Leben, das sich ganz direkt und unmittelbar äussert in jedem Atemzug. Die Einkehr nach innen geschieht nicht als Gegensatz zu und als Flucht vor dem äusseren Leben. In dem Masse, wie ich das Leben in mir erfahre, werde ich es auch im Aussen finden, werde ich nicht nur älter, sondern reife heran zu dem Menschen, der ich im Tiefsten schon bin … so lässt mich jeder Atemzug reifer werden …
Aus: „Tiefe Stille – Weiter Raum: Schweige-Impulse für jeden Tag“
von Marcel Steiner. Kösel, 2009
Das Buch Laozi bezeichnet das Dao als die Mutter alles Existierenden: Dao ist die Ureinheit, aus der alles entsteht. Es selbst ist nicht manifestiert, sondern ein gestaltloses Urchaos, welches das gesamte Weltall und alle seine Erscheinungen als Keim in sich birgt…Das Dao ist aber kein Schöpfer… Zwar erzeugt und durchströmt das Dao das gesamte Weltall, es greift aber nicht in das Weltgeschehen ein…Das gesamte Weltall gilt als ein lebendiger, sich wandelnder Organismus, der vom Dao durchdrungen ist…Es stellt die Kraft dar, die das Leben durchwirkt…
…Der gewöhnliche Menschenverstand vermag das „Geheimnis aller Geheimnisse“ nicht zu erfassen…Die Rückkehr zum Dao ist indes ein zentrales Thema im Daoismus und eine wesentliche Perspektive im Hinblick auf die Frage nach Ziel und Sinn des Lebens. Sie entspricht der Wiedervereinigung des Menschen mit seinem Ursprung und der Verschmelzung des Individuellen mit der absoluten Wirklichkeit…
Hierbei geht es darum in der Meditation das Numinose zu entdecken und dieses Gewahrwerden einer höheren Wirklichkeit zu pflegen. Dies ist nur möglich im Rahmen einer Selbstvervollkommung und einer spirituellen Entwicklung. Der Angelpunkt dieses Prozesses besteht darin, selber leer zu werden. Der Körper soll ruhig werden und das Herz leer und still, damit das Dao darin natürlich und aus sich selbst seinen Platz einnehmen kann…
..Ein daoistischer Weiser stellt sein Selbst hintenan, sagt Laozi. Er handelt absichtslos, weil er sein Selbst vergessen hat. Sein Beitrag zum Wohl der Welt besteht in einem Lebenlassen…Der Übungsweg umfasst u.a. drei Aspekte: die Übung der Einfachheit, die Übung der Wunschlosigkeit und das Einlassen der Stille…
…Im Buch Zonghe Ji heisst es zum Thema Leben und Tod: …Laozi sagt, dass die Menschen den Tod nicht ernst nehmen, weil sie nach dem prallen Leben streben…Willst du den Tod kennen, musst du zuerst das Leben kennen…Ich möchte das Ende erklären: Das Ende ist reine Gegenwart. Wer im Jetzt frei von Fesseln ist, ist auch am Ende frei von Fesseln. Wer im Jetzt unabhängig ist, ist auch am Ende unabhängig…
Martina Darga
Das menschliche Dasein ist ein Gasthaus.
Jeden Morgen ein neuer Gast.
Freude, Depression und Niedertracht –
auch ein kurzer Moment von Achtsamkeit
kommt als unverhoffter Besucher.
Begrüsse und bewirte sie alle!
Selbst wenn es eine Schar von Sorgen ist,
die gewaltsam dein Haus
seiner Möbel entledigt,
selbst dann behandle jeden Gast ehrenvoll.
Vielleicht bereitet er dich vor
auf ganz neue Freuden.
Dem dunklen Gedanken, der Scham, der Bosheit –
begegne ihnen lachend an der Tür
und lade sie zu dir ein.
Sei dankbar für jeden, der kommt,
denn alle sind zu deiner Führung
geschickt worden aus einer anderen Welt.
Rumi, persischer Mystiker (1207-1273)
Dieser Text von Rumi bringt die Offenheit zum Ausdruck, die wir beim Meditieren kultivieren. Einziger Unterschied: Wir bewirten die Gäste nicht, die da auftauchen als Gedanke, Empfindung, Urteil. Sie dürfen da sein, wir bieten ihnen aber nicht noch den Kaffee und Kuchen unserer Meinungen und Kommentare an. Wir ekeln sie aber auch nicht hinaus.
Unsere Aufmerksamkeit gilt unserem Atem, komme, was wolle
… je neu … je jetzt …
Aus: „Tiefe Stille – Weiter Raum: Schweige-Impulse für jeden Tag“
von Marcel Steiner. Kösel, 2009
Inner Bewegung
Dazu gehören
aber nicht um jeden Preis
Ein Stück weit fortgehen
aber nicht für immer
Das alte Gleis verlassen
aber nicht entgleisen
Schweigen
aber nicht ohne Aussage
In Offenheit da sein
aber das Geheimniss der Mitte wahren
Klang sein im eigenen Kreis
aber auch grosse Stille
Gedanken von Maryse Bodé
Wenn Buddha von Leerheit und Nicht-Selbst spricht,
was meint er dann damit?
Leerheit bedeutet nicht,
dass die Dinge nicht existieren
und Ich-losigkeit oder Nicht-Selbst
(Sanskrit Anatman) bedeutet nicht
dass wir nicht existieren.
Leerheit bezieht sich auf das
grundlegende Nichtgetrenntsein allen Lebens
auf dem Nährboden von Energien,
aus dem alle Formen des Lebens hervorgehen.
Ayyan Chah sagte dazu;
Wenn du versuchst, es intellektuell zu verstehen,
wird dein Kopf wahrscheinlich platzen.
Wenn wir das Bewusstsein als frei von Identifikationen erleben, frei von Gier und Hass, werden wir es als offenes Feld des Gewahrseins erfahren, klar, transparent und frei. Das reine Bewusstsein hat zahllose Facetten wie ein Mandala oder ein Diamant…
Es kann als grenzenlose Liebe erfahren werden, als tiefe Stille,
als unendliches Mitgefühl, als unbeschreiblicher Friede.
Reines Bewusstsein ist zeitlos, stets präsent, vollkommen leer, und gleichzeitig entstehen daraus alle Dinge… Dies ist unsere direkte und unmittelbare Erfahrung, die sich in vielfacher Weise ergibt. Wir klammern uns nicht an einer bestimmten Form oder Beschreibung fest.
Ajahn Chah und Ajahn Jumnien sagten stets:
„Lass das Streben, ruhe im Gewahrsein
und erfahre die Freude der Freiheit
im Hier und Jetzt.“
Jack Kornfield
Solange wir nach einem Dort suchen
werden wir niemals ein Hier finden.
Denn sobald wir ein Hier gefunden haben
begeben wir uns wieder auf die Suche
nach einem neuen Dort.
Wir sind nicht auf der Suche nach etwas ausserhalb,
sondern auf der Suche nach etwas in uns.
Oder auf der Flucht vor einer inneren Leere.
Oder wir haben uns verloren und suchen unseren Weg.
Im Augenblick stehe ich im Wald, finde ich die Wege
vor lauter Bäumen nicht,
verzettle mich und bräuchte eine Landkarte.
Eine Karte von meinem Inneren
aber kann ich nur selbst zeichnen.
Ein wenig ziellos, ratlos…
Es ist schwer, das Glück in uns zu finden,
und es ist ganz unmöglich, es anderswo zu finden.
Nicolas de Chamfort
Der spätmittelalterliche Philosoph und Prediger, Meister Eckhard erklärt:
„Gott ist ein Nichtgott, eine Nichtperson, ein Nichtbild“…
Und schliesslich: „Gott um Gottes willen lassen.“…
Lorenz Marti
Der offene, weite Raum bildet den Ursprung all dessen, was Form annimmt. Dieser „Raum des Bewusstseins“ steht für die Offenheit und unendliche Möglichkeiten des Geistes. Der offene, weite Raum ist eine passende Metapher für unsere wahre Natur: Erkennen wir, wie sich Raum und Objekte, Form und Leerheit bedingen, identifizieren wir uns nicht länger einseitig mit der endlosen Vielfalt an Formen und Bezeichnungen…
Chan-Meister Huangbo Xiyun (gest. 850) gibt uns einen deutlichen Hinweis, dass sich die letzte Wirklichkeit nicht in feste Kategorien fassen lässt:
„Alle Buddhas und alle Lebewesen sind nichts als der Eine Geist, neben dem nichts anderes existiert. Dieser Geist, der ohne Anfang ist, ist ungeboren und unzerstörbar. Er ist weder grün noch gelb, hat weder Form noch Erscheinung…Er überschreitet alle Grenzen, Masse, Namen, Zeichen und Vergleiche.“
Marcel Geisser
Hier für Euch der 3. Online Dharma Vortrag von Marcel
24.05.2020 gepostet von erwin
Der Weg der Befreiung reicht tief hinein in Vertrauen und Einsicht – hin zum Unnennbaren, bis zur Realisation der Leerheit.
Die Einsicht, von der wir in der Buddha-Lehre sprechen, ist eine Einsicht in die – scheinbare – Doppelnatur des Geistes: Wir sprechen von einer relativen und einer absoluten Sicht…Je genauer und tiefer wir schauen, desto mehr löst sich der bekannte, eingeschränkte Blick auf, der die Wirklichkeit zu sehr mit all unseren Konzepten und längst gefassten Urteilen überdeckt hat…
Die relative Welt und das „Ungeborene“ oder das Tao oder wie wir es behelfsmässig nennen wollen, sind nicht zwei getrennte Dinge!
…Zen zeigt uns einen Weg auf, wie wir mitten in der relativen Wirklichkeit das „Ungeschaffene“ finden und berühren können:
Diese Weisheit blüht in jeder Blume, erfahren wir in jeder Wolke und genau betrachtet auch im eigenen Geist. Daraus ergibt sich ganz natürlich ein Respekt gegenüber der Welt und allem Leben.
Marcel Geisser
Während ich dem Klang der Glocke lausche,
fühle ich, wie sich aller Schmerz
in meinem Innern auflöst.
Mein Geist ist ruhig
und mein Körper entspannt.
Ein Lächeln
wird auf meinen Lippen geboren.
Ich folge dem Klang der Glocke
und kehre zurück
zur Insel der Achtsamkeit,
und im Garten meines Herzens
erblühen die Blumen des Friedens.
https://intersein.de/texte.html
Aus: Leitfaden zum Einladen der Glocke