Der Bodhisattva Avalokiteshvara weilte tief im Strom vollkommenen Verstehens. Er erhellte den Prozess, der zur Illusion einer abgeschlossenen Persönlichkeit führt. Deren Leerheit erkennend überwand er alles Leiden.
Das Prajnaparamita Herz-Sutra ist das wunderbare Geschenk Avalokitesvara Bodhisattvas an uns; es ist das Geschenk der Nicht-Angst, denn er selbst hat die Angst transzendiert. Bodhi bedeutet erwacht sein und sattva bedeutet Lebewesen; Boshisattva bezeichnet also ein erwachtes Lebewesen. Prajnaparamita bedeutet Vollkommenes Verstehen.
Avalokita erkannte, dass die fünf Skandhas leer sind. Die fünf Skandhas sind die fünf Elemente, die ein menschliches Wesen bilden. Diese fünf Elemente fliessen wie ein Strom in jedem von uns: der Strom der Form, d.h. unser Körper, der Strom der Empfindungen, der Strom der geistigpsychischen Formkräfte und der Strom unseres Bewusstseins. Als Avalokita das Wesen dieser fünf Ströme ergründete, sah er plötzlich, dass alle fünf leer sind. Und wenn wir fragen: „Leer von was?“ so gibt er uns zur Antwort: „Sie sind leer von einem eigenständigen, unabhängigen Selbst.“ Das bedeutet, keiner dieser fünf Ströme kann durch sich selbst existieren. Jeder muss aus den vier anderen Strömen bestehen. Sie sind nur gleichzeitig, und sie bedingen und durchdringen einander wechselseitig.
Avalokita sagt, dass ein Stück Papier leer ist, und er meint damit, dass es leer von selbständiger Existenz ist. Es kann nicht durch sich selbst sein. Es existiert nur durch die wechselseitige Durchdringung. Betrachten wir es in dieser Weise, so sehen wir, dass alles gleichzeitig in dem Stück Papier enthalten ist. – Zeit, Raum, die Erde, der Regen, die Mineralien der Erde, der Sonnenschein, die Wolke, der Fluss, die Hitze. Das Stück Papier ist, weil alles andere ist. Es ist ohne eigenständiges Selbst. Doch leer von einem eigenständigen Selbst zu sein bedeutet, erfüllt zu sein von allem. Also sagt Avalokita uns, dass Form leer ist. Form ist leer von einem eigenständigen Selbst, aber sie ist erfüllt von allen Phänomenen des Kosmos.
„Deren Leerheit erkennend überwand er alles Leiden.“
Es gibt keinen anderen Weg etwas zu erkennen, als dieses Etwas zu ergreifen und eins damit zu sein. Wir müssen das Stück Papier durchdringen, die Wolke sein, der Sonnenschein sein. Wenn wir es so erfassen und alles sind, was in ihm ist, wird unser Verstehen des Stück Papiers vollkommen sein.
Es gibt eine alte Geschichte über ein Salzkorn, das wissen wollte, wie salzig das Meer eigentlich ist. Um dies in Erfahrung zu bringen, sprang es ins Meer und wurde eins mit dem Wasser. Auf diese Weise erlangte das kleine Salzkorn vollkommenes Verstehen.
In seiner Meditation drang Avalokita tief in die fünf Skandhas ein. Indem er eintauchte in den Strom der Form, der Empfindungen, der Wahrnehmungen, der geistig-psychischen Formkräfte und den Strom des Bewusstseins, entdeckte er ihre leere Natur, und plötzlich überwand er alles Leiden. Wir alle, die wir diese Art der Befreiung erlangen möchten, müssen durch-schauen, um die wahre Natur der Leerheit zu durchdringen.
Thich Nhat Hanh