Die eine Wirklichkeit weist zwei Seiten auf: Wir können sie aus der relativen, historischen und alltäglichen Perspektive betrachten oder aus der grossen Perspektive, die wir aus Mangel an besseren Worten auch die absolute Sicht nennen. Obwohl die sogenannte relative und die absolute Sicht eins sind, lohnt es sich, sie für unseren Prozess unterscheiden zu lernen. Es ist wichtig, nicht dem Irrtum zu verfallen, dass die Wirklichkeit zweifach sei. Es sind nur zwei Sichtweisen einer Wirklichkeit. Je genauer und tiefer wir schauen, desto mehr löst sich der bekannte, eingeschränkte Blick auf, der die Wirklichkeit zu sehr mit all unseren Konzepten und längst gefassten Urteilen überdeckt hat. Die Natur der relativen Welt ist Veränderung – sie niemals statisch und fest.
„Aufgrund der zwei Wahrheiten haben die Buddhas den Menschen den Dharma gelehrt. WELTLICHE WAHRHEIT ist die eine, und die HÖCHSTE WAHRHEIT die andere. Wer diese beiden Wahrheiten nicht kennt, kann niemals die tiefe Bedeutung der Lehre des Buddha verstehen.“ (Nagarjuna)
Auch wenn wir im Zen klar und deutlich die relative Ebene der Existenz anerkennen, mit all den Sorgen und Nöten der Menschen und der anderen Wesen, so bleibt dies nicht die einzige Sicht der Dinge. Es ist von zentraler Bedeutung, den Geist unserer „ursprünglichen Natur“ zu erkennen, unsere Buddha-Natur und damit die beiden Pole von Gute und Böse in der Erfahrung der „Einen Wirklichkeit“ aufzulösen.
Wie Meister Ku San aus dem Song Kwang Tempel in Südkorea sagte:
„Es gibt keinen Erleuchteten, die die Lehre (Dharma) erklärt und keine gewöhnlichen Wesen, die der Lehre lauschen. Das alles sind nur Konstruktionen der Buddhas und der Patriarchen. Geburt und Tod sind dasselbe. Die Welt des ewig sich drehenden Samsara ist ein und dasselbe wie Nirvana, das Ungeborene, das Todlose. Gut und Böse haben letztlich keine Wurzeln. Das ist der Geist der vollkommenen Freiheit und der Grossen Befreiung.“
Marcel Geisser
Am Anfang unserer Zen-Übung, und auch danach, befinden wir uns häufig vollständig in der relativen Wahrheit. Wir leben in einer Welt von Glück und Unglück, Kummer, Verlangen und Leiden, und infolgedessen üben wir, um glücklicher zu werden, oder weniger unzufrieden. Aber wenn wir uns einseitig an diese relative Welt binden, dann kreieren wir Gegensätze. Dann gibt es Glück und darum auch immer Unglück. Dann wird Zufriedenheit-Unzufriedenheit entgegengesetzt. Und für uns gibt dann nur entweder-oder. Entweder sind wir glücklich oder unglücklich. Und weil wir das so trennen, üben wir, um glücklich zu werden.
Die zwei Aspekte der Wirklichkeit werden sehr oft mit dem Ozean und seinen Wellen verglichen. Wenn man den Strand entlang geht, sieht man sehr unterschiedliche Wellen. Es gibt hohe und weniger hohe Wellen, es gibt kurze und lange Wellen. Wellen mit viel und Wellen mit wenig Schaum. Aber welche Form auch immer die Welle hat, alle Wellen sind aus Wasser. Das Leben der Welle kann nicht vom Leben des Wassers getrennt werden. Wenn die Welle nicht begreift, dass sie aus Wasser ist, dann wird sie tatsächlich denken, dass sie hoch ist, oder kurz oder schäumend, und sogar, dass ihre Dauer ein Ende hat. Dann sieht sie den Strand näher kommen und steigt Angst in ihr auf. Oooh…ich werde sterben. Sie erkennt nicht, dass sie aus Wasser ist. Dass es kein Ende ihres Lebens gibt, und auch keinen Anfang.
Und wir denken, die Welle an ihrem Äusseren zu erkennen: hoch, flach, kurz, lang… aber in ihrem Wesen als Wasser gibt es diese Eigenschaften nicht. Genau so gibt es in der Welt des Absoluten keine Eigenschaften. Und gleichzeitig ist die Welt auch relativ, mit allen Eigenschaften, die es gibt.
Zen leben bedeutet, das Absolute und das Relative zu leben.
Jiun roshi
Im Buddhismus gibt es die beiden Begriffe lokadhatu, die phänomenale Welt, und dharmadatu, die noumenale Welt. Lokadhatu ist die Welt der Unterscheidung, in der wir unser tägliches Leben führen. Der Physiker David Bohm benutzte vergleichbare Begriffe: „implizite Ordnung“ und „explizite Ordnung“. In der impliziten Ordnung enthält jedes Element, wie klein es auch immer es sei, in sich die Gesamtheit des Universums. Jedes Element enthält den Geist, und der Geist enthält jedes Element. In der Welt des Dharmadatu ist der Vater im Kind und das Kind im Vater. Der Abfall ist in der Blume und die Blume im Abfall. Wir sind Buddha, und der Buddha ist in uns.
Thich Nhat Hanh
„An einem verschneiten Abend sitzt der Dichter vor seinem Fenster und fühlt sich durch die Schönheit der Natur inspiriert. Er denkt: „Wenn es noch ein paar Stunden schneit, wird es noch schöner sein als jetzt!“
Zur selben Zeit späht ein Obdachloser aus einer Nische in einer Strasse hervor und denkt: „Wenn es noch ein paar Stunden schneit, werde ich die Nacht vermutlich nicht überleben“.
Beide sehen dieselbe Landschaft, aber weil ihre Bedingungen unterschiedlich sind, nehmen sie sie sehr verschieden wahr“.
Hsing Yun