Kommentar zum Herzsutra
Höre, Shariputra, Form ist Leerheit – Leerheit ist Form, Form ist nichts anderes als Leerheit – Leerheit ist nichts anderes als Form. Genauso sind Empfindungen, Wahrnehmungen, geistige Formkräfte und Bewusstsein leer von einem abgetrennten Selbst.
Form ist die Welle und Leerheit ist das Wasser. Mit Hilfe dieser Vorstellung könnt ihr verstehen. Die Inder sprechen eine Sprache, deren Bilder uns irritieren können, aber wir müssen ihre Ausdrucksweise begreifen, um sie wirklich zu verstehen. Wenn wir im Westen einen Kreis zeichnen, so symbolisiert er für uns die Null, das Nichts. In Indien hingegen symbolisiert ein Kreis Ganzheit, Totalität. Die Bedeutung ist gegenteilig.
„Form ist Leerheit, Leerheit ist Form.“ Auf unsere Vorstellung übertragen bedeutet das: Welle ist Wasser, Wasser ist Welle. In der vietnamesischen Literatur gibt es zwei Zeilen in dem Gedicht eines Zen-Meisters aus dem 12. Jhr., die folgendermassen lauten:
„Wenn es existiert, dann existiert ein einziges Staubkorn. Wenn es nicht existiert, dann existiert der gesamte Kosmos nicht.“
Der Zen-Meister drückt damit aus, dass die Vorstellung von Existenz und Nicht-Existenz nur durch unseren Geist geschaffen sind. Er sagte auch:
„Der gesamte Kosmos kann auf der Spitze eines Haares Platz finden, und Sonne und Mond können in einem Senfkorn erblickt werden.“
Dies sind Bilder, die uns zeigen, dass eins alles enthält und alles nur eins ist. Weil Form Leerheit ist, ist Form überhaupt möglich. In der Form finden wir alles andere – Empfindungen, Wahrnehmungen, geist-psychische Formkräfte und Bewusstsein. Leerheit bedeutet, leer von einem eigenständigen Selbst zu sein; bedeutet, voll von allem erfüllt von Leben zu sein. Leerheit ist die Grundlage von allem. Dank der Leerheit ist alles möglich. Wenn ich nicht leer wäre, könnte ich nicht sein, und wenn ihr nicht leer wäret, könntet ihr nicht sein. Weil ihr seid, kann auch ich sein. Form hat keine selbständige Existenz. Leerheit ist Unbeständigkeit, steter Wandel.
Wenn ihr ein Getreidekorn in die Erde einpflanzt, so hofft ihr, dass daraus eine grosse Getreidepflanze wird. Gäbe es keine Unbeständigkeit, so bliebe das Getreidekorn für immer ein Getreidekorn, ihr hättet niemals eine Ähre und könntet niemals Getreide essen. Unbeständigkeit ist die entscheidende Voraussetzung für alles Leben. Leerheit ist die Basis von allem. Dank der Leerheit ist Leben möglich.
THICH NHAT HANH
aus Herzsutra Teil 2
ganzes Herzsutra lesen: http://zentao.wordpress.com/herz-sutra/