Gewahrsein
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Meditation wird zur lebendigen Erfahrung, weil wir lernen, unsere gewohnheitsmässige Verstrickung in die Geschichten, Konflikte, Projekte und Sorgen, mithilfe derer wir unser Selbst konstruieren, loszulassen und immer tiefer im Gewahrsein zu verweilen. Durch Nicht-Identifikation mit unseren Gedanken und Emotionen ruhen wir im Gewahrsein selbst und erfahren die natürliche Leichtigkeit des Herzens. Das achtsame Verweilen stärkt unser Samadhi (Konzentration), was den Geist stabilisiert und klärt, sodass Prajna, die Weisheit, aufblitzen kann, die die Dinge so sieht, wie sie sind.
Wir öffnen den Fokus unserer Aufmerksamkeit ganz weit, sodass unser Gewahrsein weit wie der Raum oder der Himmel wird. Buddha sagte:
„Entwickle einen Geist, der so offen ist wie der Raum, in dem angenehme und unangenehme Erfahrungen entstehen und vergehen können, ohne Konflikte oder Leid hervorzurufen. Verweile in diesem Geist wie im weiten Himmel.“
Wir lassen alle Erfahrungen zu, ohne Grenzen, ohne innen oder aussen. Wir lassen unser gewohntes Orientierungsraster, das den Geist als „in unserem Kopf“ verortet, los und spüren, wie der Geist in seinem Gewahrsein offen, grenzenlos und weit ist. Wir lassen unser Gewahrsein sich in alle Richtungen ausdehnen. Wir lassen zu, dass unser Gewahrsein ein Bewusstsein erlebt, das nicht an der vereinzelten Erfahrung des Sehens, Hörens oder Empfindens klebt, sondern das von diesen Bedingungen völlig unabhängig ist – das Unbedingte. Wir ruhen im reinen, zeitlosen und ungeborenen Gewahrsein. Der Meditierende erlebt dies nicht als Ideal, als abgehobene Erfahrung, denn dieses Gewahrsein ist immer zugänglich, immer präsent, absolut befreiend: Es ist der Ort, an dem sich das weise Herz ausruht.
Wir verweilen in dieser Offenheit und lassen die Empfindungen kommen und gehen. Wir lassen die Gedanken und Bilder, Gefühle und Geräusche dahinziehen wie die Wolken im klaren, offenen Raum unseres Gewahrseins. Wir erkennen, dass der offene Raum des Gewahrseins klar ist, durchscheinend, zeitlos und ohne Einschränkungen – er ist offen für alles, ohne sich davon begrenzen zu lassen.
Der Buddha sagte: „O Hochgeborener, erinnere dich des reinen, offenen Himmels deiner wahren Natur. Kehre dahin zurück. Vertraue ihm. Er ist deine Heimat.“
Jack Kornfield
Offenes Gewahrsein
Die Mahayana-Tradition unterscheidet zwischen Geist und Natur des Geistes. Mit Geist werden die Bewegungen auf der Oberfläche bezeichnet, die unbeständig sind: Sinneswahrnehmung, Körperempfindungen, Gefühle und Gedanken. Die Natur des Geistes oder die Tiefenstruktur des Geistes ist immer da. Sie ist leer von Zuschreibungen, offen und weit wie der Himmel. Sie ist klar und leuchtend wie die Sonne. Erfahrungen sind wie das Wetter im offenen, lebendigen Raum der Natur des Geistes. Wenn der Geist rein genug ist, d.h. relativ entspannt, ohne Angst und wach und klar, schauen wir nicht nur auf die unbeständigen Erfahrungen, sondern entdecken den offenen, lebendigen Raum des Geistes, der immer da ist.
Wenn wir den Geschmack der Freiheit kennen, wissen wir, worum es auf dem spirituellen Weg geht. Wir können die Erfahrung der Natur des Geistes, wir können alle diese besonderen Erfahrungen durch keine Meditationstechnik herbei zwingen. Wir können aber Herz und Geist durch Meditationsübungen und inspirierende Texte soweit reinigen, daß wir diese Zusammenhänge immer tiefer verstehen und immer mehr darauf vertrauen, daß es etwas Größeres gibt, etwas Unfaßbares, was unser kleines Leben und das aller Lebewesen trägt.
„Ich“ fühle mich aufgehoben im Großen Ganzen, verschwinde aber nicht. In einem klassischen Bild heißt es: Jede Welle ist Teil des Meeres. Das bedeutet: Jede Erscheinung ist Teil der ganzen Welt. Und jede Welle ist Wasser. Man könnte sagen, daß die Welle „begreift“, daß sie Wasser ist. Sie bleibt dennoch Welle für den Augenblick, in dem sie erscheint. Sie weiß: Wasser ist „ewig, freudig, selbstlos und rein“ und erscheint als Meer und als Welle. Der bedingte Geist versteht im Anschluß an diese Erfahrung, daß jede Bewegung im Geist, daß dieser ganze Körper-Geist-Komplex, eine Welle im Meer des Offenen Gewahrseins ist.
Im Offenen Gewahrsein ruhen löst Angst und Aufregung auf, und das wird als Freude und Frieden erlebt. Wer begreift, daß alle Menschen, alle Lebewesen und alles, was erscheint, Ausdruck der Natur des Geistes ist, fühlt sich mit allem und allen verbunden. Wenn wir die Natur des Geistes einmal erkannt haben, vertrauen wir auf den offenen, lebendigen Raum.
Manchmal fühlen wir uns eins mit allen, was ist, und die Unterschiede sind unwichtig. Die klassische Formel für die Auflösung dieses Widerspruchs von Vielfalt und Einheit ist: „Form ist Leerheit. Leerheit ist Form.“ Das Herz-Sutra erklärt uns sehr drastisch, wie das Unsichtbare und das Sichtbare, wie Leerheit und Erscheinung, „Schein und Sein“ zusammenhängen. Dieser alte Weisheitstext gibt uns jedes Mal eine Ohrfeige, wenn wir an einer Art von Wirklichkeit hängen bleiben. Das scheint wohl nötig, denn wir müssen diese Wahrheit immer wieder hören. Solange bis wir begreifen, daß genau da, wo Form erscheint, Leerheit ist, und genau da, wo Leerheit ist, Form erscheint. Es gibt keine Erscheinungen ohne Leerheit und auch keine Leerheit ohne Erscheinungen. Anders ausgedrückt: Es gibt keine Erscheinungen ohne Buddha-Natur und auch keine Buddha-Natur ohne Erscheinungen. Genau da, wo Erscheinungen auftauchen, genau da ist Buddha-Natur, und genau da, wo Buddha-Natur ist, tauchen Erscheinungen auf. Genau da, wo das Leben „tobt“, genau da ist Buddha-Natur, und genau da, wo Buddha-Natur ist, „tobt“ das Leben. In christlichen Begriffen könnte es heißen: Genau da, wo Gott ist, erscheint die Welt, und wo die Welt erscheint, ist Gott.
Einfache und völlig Erwachte wissen, daß sie beides sind: Offenes Gewahrsein und alles, was darin geschieht. Erwachen gilt als das Höchste, was Menschen erreichen können. Erwachte lassen alle Kategorien hinter sich. Deswegen sagte der Buddha: „Ich bin weder Mensch noch Gott, ich bin erwacht.“