Leben und Sterben sind zwei Seiten eines Ganzen,
Vergehen und Neu werden ist der Prozess des Lebens.
Der Mensch hat die Intelligenz, sich darauf einzurichten,
doch er leidet trotzdem.
Es ist aber möglich, dieses Leiden so zu erfahren,
dass es in einem grösseren Zusammenhang
aufgehoben und gelegt werden kann,
in die Quelle des Urvertrauens.
Diese Quelle freizulegen ist der Inbegriff der Zen-Praxis.
Wer nicht nur intellektuell,
sondern im tiefsten Grund seines Geistes „erkennt“,
dass er im Atem und in jeder Bewegung
des Leiblichen, Seelischen und Geistigen erfährt,
dass er mit allen anderen Lebewesen verbunden ist,
dessen Geist geht in der Faszination
von Hingabe, Liebe und Freude völlig auf.
Wer Zen übt, bekommt davon –
oft erst nach schmerzhaften Geburtswehen –
eine Ahnung,
manchmal auch eine überwältigende
und alles verändernde Erfahrung.
Michael von Brück
Zen-Praxis

Osterretreat 2013 im Haus Tao
Einem Aspekt der Leerheit begegnen wir, wenn wir beobachten, wie alles aus dem Nichts entsteht, aus dem Leeren kommt und ins Leere zurückkehrt. Jede Erfahrung vollzieht sich in der Gegenwart, führt ihren Tanz auf und verschwindet wieder. Sie tritt nur vorübergehend in Erscheinung, in einer bestimmten Form und für kurze Zeit; dann endet diese Form und eine neue Form ersetzt sie, von einem Augenblick zum anderen.
Wenn wir unsere Aufmerksamkeit mit Sorgfalt auf unseren Körper oder unseren Geist richten, erleben wir immer mehr Raum und immer weniger Verfestigung. Dann ist Erfahrung etwas Ähnliches wie die Partikel/Wellen in der modernen Physik, ein Muster, das nicht ganz fest ist, das sich ständig verändert.
Wenn wir uns öffnen und leer machen, erleben wir Verbundenheit und Interaktion aller Dinge; alles hängt in einem bedingten Entstehen miteinander zusammen.
Das Zeichen wahrer Leerheit ist Freude; sie belebt unsere Fähigkeit, das Mysterium des Lebens, das uns in jedem Augenblick aus dem Nichts entgegentritt, wertzuschätzen.
Laotse sagte:
„Wer im Tao verankert ist,
kann gefahrlos überall hingehen.
Wer im Tao verankert ist,
empfängt die kosmische Harmonie auch inmitten grossen Leidens,
denn im Herzen ist Frieden.“
JACK KORNFIELD
Die Welt ist etwas ganz anderes… als unsere Wahrnehmung uns vormacht. Unser Tagesbewusstsein zeigt uns keine objektive Welt. In Wirklichkeit gibt es keine Farben, Töne, Gerüche, keine Temperatur und keinen Geschmack. Wir sind einer ständigen Hypnose unterworfen. Der Osten nennt die Welt des Tagesbewusstseins – Maya – Trugbild. Warum sind wir so weit von unserem wahren Wesen getrennt? Warum halten wir ein Seil in der Dunkelheit für eine Schlange? Darauf gibt es keine befriedigende Antwort.
Was ist Wirklichkeit?
Mit Wirklichkeit ist hier eine Formlose, nonduale Seinsebene gemeint. In der Mystik gibt es den Begriff – Sophia Perennis – Ewige Weisheit – Diese Weisheit hat nichts mit Wissen zu tun, sondern mit einer Dimension, die hinter aller Rationalität liegt. Der Begriff – Leerheit – ist vielleicht der passenste, aber er darf nicht rational verstanden werden. Das ist die Dimension, die uns die eigentliche Deutung unseres Menschseins bringt. Sie führt uns in den jetztigen Augenblick. Wir begreifen uns dann als Staubkorn, aber auch als Mysterium in einem Zeitlosen Geschehen.
Traditionen wie die christliche Mystik, das Zen, der Yoga-Weg und der Sufismus weisen uns darauf hin und sagen uns, dass es ein innen und Aussen , eine Trennung von Subjekt und Objekt nie gab. Der Sucher erweist sich als der Gesuchte. Es scheint zwischen der – Leerheit – des Zen, dem – Nada – eines Johannes vom Kreuz und dem – Nichts – eines Schreibers der _ Wolke des Nichtwissens – kaum Trennendes zu geben. Die Erfahrung die der Mensch auf diesen Wegen machen kann, bezieht sich auf den momentanen Augenblick und ist nichts Abstraktes. Es ist dieser Schritt den wir gerade tun, dieser Laut, den wir hören, dieser Geschmack auf unserer Zunge und auch der Ablauf eines Gedanken, als der sich die wirkliche Wirklichkeit manifestiert.
Diese – grosse Leere – wie Zen sie nennt, kann beängstigend wirken, wenn der Mensch in das Ich zurückkehrt, das in der Leere verschwunden war. Sie entfaltet sich als Ehrfurcht, Demut, Verbundenheit und als Liebe zu allen Menschen und allen Lebewesen. Diese Liebeskraft führt aus der personalen Eingrenzung heraus. Sie ist nicht – ich liebe Dich – und – Du liebst mich – sondern eine existentielle Verbundenheit, die niemanden ausschliessen kann. Sie lässt die Einheit von Aktion und Ruhe, von Immanenz und Transzendenz erfahren. Der Weg führt sogar zu einer physischen Veränderung der Gehirnstrukturen, wie neurobiologische Erkenntnisse belegen.
Das Eine ist meine wahre Natur – und die Natur aller Wesen.
Es ist zeitlos und entfaltet sich in der Zeit.
Es entsteht nicht bei meiner Geburt
und vergeht nicht bei meinem Tod.
Dieses EINE ist der Urgrund aller Dinge
aus Jenseits von Gott von Willigis Jäger
Zen ist die Tradition, die besonders sensibel dafür ist, dass jede Brille nur eine Brille ist und immer wieder abgesetzt werden muss, damit wir neu sehen können. Zen befreit zu einer Freiheit von Worten, Begriffen und Bildern, Ritualen usw. Zen kann man beschreiben als die systematische Lebensübung, von Vorurteilen frei zu werden. Nicht mit logischen Argumenten, wie die Philosophie es tut, sondern mit einer existenziellen Übung des Körpers und des Atmens, wo sich der Mensch seiner tiefen Einheit mit allem bewusst wird.
Zen führt in eine Tiefenerfahrung des Geistes, die auch als „Leerheit“ beschrieben wird. Der Zen-Übende lässt die Gedanken vorüberziehen und verweilt nicht bei ihnen, er hält sie vor allem nicht für Abbilder der Wirklichkeit. Begriffe sind zwar notwendig, um die Vielfalt der Sinneseindrücke zu filtern und zu ordnen, doch sie repräsentieren nicht das, „was ist, sondern erzeugen Stereotype und Projektionen, und die Wirklichkeit erscheint in Rastern des Gewohnten, Vergangenen und stereotyp geordneten. Vor allem aber verhindern feste Vorstellungen („fixe Ideen“) die Offenheit für das Gegenwärtige und spontan Neue in jedem Augenblick. Stattdessen konzentriert sich das Bewusstsein auf sich selbst, d.h., auf einen in ihm selbst wirkenden Strom von achtsamem Gewahrsein. Das Ziel des Zen besteht also im Nicht-Anhaften an Gedanken, Gefühlen, Handlungen.
Zen ist eine Übung des Schweigens – dabei schweigt nicht nur der Mund, sondern vor allem der Geist, das heisst die Gedanken, Emotionen und Bewertungen jeglicher Art. Dies ist nur möglich, wenn der Körper zur Ruhe kommt. Der schweigende Mensch ist mit allen verbunden. Zen öffnet den Menschen, diese Einheit zu sehen. Dies ist die ursprüngliche Erfahrung der Liebe, die mehr als ein Gefühl ist. Sie ist die Kraft des Seins selbst. Der Zen-Weg schaut hinter jeden kulturellen und religiösen Firnis und stellt sich dem Erlebnis unmittelbarer Seinskraft in der Tiefe des Geistes, bevor das Bewusstsein Begriffe gebildet und damit die Wirklichkeit aufgespalten hat.
Hinter dem Denken und Fühlen und Wahrnehmen kann das Bewusstsein – und das geschieht in der Zen-Praxis – in einen Grund sinken, in eine reine Aufmerksamkeit, in der die Gegensätze verschmelzen und nur noch „Gewahrsein“ übrig bleibt. In diesem Gewahrsein ist alles enthalten, alles aufeinander bezogen.
Offene Weite – nichts von heilig. Genau darum, weil die Weite heilig ist. Sie ist offen, weil der menschliche Blick begrenzt ist. Nichts ist heilig, weil alles heilig ist. Der verstellte Blick auf das Unheilige, denn darauf folgt Abschliessung, Eifersucht und Gewalt. Zen ist die Übung, den Blick zu öffnen.