Wenn wir an Dingen festhalten und diese sich verändern, macht uns das glücklich? Oder wenn wir wollen, dass die Dinge so sind, wie wir es gern hätten (wenn wir beispielsweise wollen, dass unser Geist immer ruhig und still ist oder dass unser Körper immer bestimmte Empfindungen hat), macht das überhaupt Sinn? Ist es schon jemals einem Menschen gelungen, einen geistigen oder physischen Zustand für alle Zeiten aufrechtzuerhalten? Gerade unser Bedürfnis ruhig zu sein oder frei zu sein, unsere spirituellen Wünsche, unsere subtilen Ängste vor dem, was tatsächlich der Fall ist, all das lässt uns ständig in einem Konfliktzustand leben und legt uns in Ketten. Es geht nicht darum, am Ende einen bestimmten Zustand oder ein Ideal zu erreichen, sondern darum, wieder ins Zentrum des eigenen Seins zu gelangen, hier und jetzt.
Wir sehen Gedanken auftauchen und verschwinden, Stimmungen entstehen und vergehen, Körperempfindungen kommen und gehen – gemäss den Gesetzen der Bedingtheit. Wir sind nicht die Lenker dieses Prozesses. Die Veränderung entzieht sich unserer Kontrolle. Wir lassen los. Nicht, weil wir jemanden nachahmen oder weil dies von uns erwartet wird, sondern ganz natürlich, weil wir es selbst einsehen und weil wir die Natur der Dinge erkennen.
Suzuki Rôshi sagt: „Nichts existiert anders als im Augenblick, in seiner gegenwärtigen Form und Farbe. Ein Ding fliesst in ein anderes über und ist nicht greifbar. Bevor der Regen endet, hören wir einen Vogel. Selbst unter der dichtesten Schneedecke sehen wir Schneeglöckchen und neue Sprosse.“
Die Wahrheit unseres Seins ist ganz einfach dieser Prozess der fliessenden Veränderung. Alles ist unbeständig. Nichts ist es wert, dass man danach greift, weil nichts dauerhaft ist. Alles ist leer, ohne Selbst, wie Wolken, die den Himmel durchziehen. Wenn wir wissen, dass nichts sicher ist, dass es keinen festen Platz gibt, an dem wir stehen können, können wir loslassen, sein lassen und zur Ruhe kommen. Wir entdecken die tiefe Bedeutung dessen, was es heisst, loszulassen. Denn je mehr wir greifen und festhalten – den Körper, die Sinne, die Gefühle, die Erinnerungen, die Vorstellungen, die Reaktionen und die Beobachtung – , umso mehr schaffen wir auch ein abgetrenntes „Selbst“ und umso stärker leiden wir unter unserer Anhaftung.
Wenn der Geist aufhört, zu wollen und zu urteilen und sich mit allem zu identifizieren, was auftaucht, sehen wir den leeren Fluss der Erfahrung so, wie er ist. Wir gelangen dann zu einem Grund der Stille und der wesenseigenen Vollkommenheit. Wenn wir aufhören zu kämpfen und sein lassen, was ist, äussert sich die natürliche Weisheit, Freude und Freiheit unseres Seins und verschafft sich mühelos Ausdruck. Unsere Handlungen können dann aus spontanem Mitgefühl entstehen, und unsere angeborene Weisheit lenkt unser Leben vom Herzen aus.
Bei der Meditation lernen wir, uns mit einer Aufmerksamkeit, die von ganzem Herzen kommt, zu sorgen, sorgsam mit jedem Augenblick umzugehen. Wir picken uns nicht die Erfahrungen heraus, die uns Freude machen, sondern entwickeln ein Gefühl der Harmonie, wir öffnen uns ständig der Wahrheit in uns und verbinden uns dem gesamten Leben. Wie der grosse tibetische Lama Karmapa sagte: „Dies bedeutet, das Üben zu leben, statt es einfach nur zu tun.“
Jack Kornfield