Zen ist die Tradition, die besonders sensibel dafür ist, dass jede Brille nur eine Brille ist und immer wieder abgesetzt werden muss, damit wir neu sehen können. Zen befreit zu einer Freiheit von Worten, Begriffen und Bildern, Ritualen usw. Zen kann man beschreiben als die systematische Lebensübung, von Vorurteilen frei zu werden. Nicht mit logischen Argumenten, wie die Philosophie es tut, sondern mit einer existenziellen Übung des Körpers und des Atmens, wo sich der Mensch seiner tiefen Einheit mit allem bewusst wird.
Zen führt in eine Tiefenerfahrung des Geistes, die auch als „Leerheit“ beschrieben wird. Der Zen-Übende lässt die Gedanken vorüberziehen und verweilt nicht bei ihnen, er hält sie vor allem nicht für Abbilder der Wirklichkeit. Begriffe sind zwar notwendig, um die Vielfalt der Sinneseindrücke zu filtern und zu ordnen, doch sie repräsentieren nicht das, „was ist, sondern erzeugen Stereotype und Projektionen, und die Wirklichkeit erscheint in Rastern des Gewohnten, Vergangenen und stereotyp geordneten. Vor allem aber verhindern feste Vorstellungen („fixe Ideen“) die Offenheit für das Gegenwärtige und spontan Neue in jedem Augenblick. Stattdessen konzentriert sich das Bewusstsein auf sich selbst, d.h., auf einen in ihm selbst wirkenden Strom von achtsamem Gewahrsein. Das Ziel des Zen besteht also im Nicht-Anhaften an Gedanken, Gefühlen, Handlungen.
Zen ist eine Übung des Schweigens – dabei schweigt nicht nur der Mund, sondern vor allem der Geist, das heisst die Gedanken, Emotionen und Bewertungen jeglicher Art. Dies ist nur möglich, wenn der Körper zur Ruhe kommt. Der schweigende Mensch ist mit allen verbunden. Zen öffnet den Menschen, diese Einheit zu sehen. Dies ist die ursprüngliche Erfahrung der Liebe, die mehr als ein Gefühl ist. Sie ist die Kraft des Seins selbst. Der Zen-Weg schaut hinter jeden kulturellen und religiösen Firnis und stellt sich dem Erlebnis unmittelbarer Seinskraft in der Tiefe des Geistes, bevor das Bewusstsein Begriffe gebildet und damit die Wirklichkeit aufgespalten hat.
Hinter dem Denken und Fühlen und Wahrnehmen kann das Bewusstsein – und das geschieht in der Zen-Praxis – in einen Grund sinken, in eine reine Aufmerksamkeit, in der die Gegensätze verschmelzen und nur noch „Gewahrsein“ übrig bleibt. In diesem Gewahrsein ist alles enthalten, alles aufeinander bezogen.
Offene Weite – nichts von heilig. Genau darum, weil die Weite heilig ist. Sie ist offen, weil der menschliche Blick begrenzt ist. Nichts ist heilig, weil alles heilig ist. Der verstellte Blick auf das Unheilige, denn darauf folgt Abschliessung, Eifersucht und Gewalt. Zen ist die Übung, den Blick zu öffnen.
Michael von Brück