Nachdem Buddha volle neunundvierzig Jahre gelehrt und gepredigt hatte, meinte er, er habe noch kein einziges wahres Wort gesprochen.
Kein Sterblicher kann sich absolut sicher sein, ob er die Wahrheit kennt. Das Grundproblem ist, dass wir über keine Möglichkeit verfügen, aus unserem eigenen System (unserem eigenen Geist) aus zu steigen und von aussen her zu sehen, was nun eigentlich wirklich vor sich geht. Die Naturgesetze sind alles relative Wahrheiten; sie sind relativ zu unserem Wahrnehmungssystem, relativ zu unserem derzeitigen wissenschaftlichen Verständnis und relativ zu unserem subjektiven Geist.
Zenlehrer Seung Sung sagt:
„Ein Ich-weiss-nichts-Geist durchtrennt das Denken.
Er ist vor dem Denken. Vor dem Denken gibt es keinen Gott,
keinen Buddha, kein „Ich“, keine Worte
überhaupt nichts. Dann werden du und das Universum eins.“
Kenneth S. Leong
Nicht-Selbst
Meditation wird zur lebendigen Erfahrung, weil wir lernen, unsere gewohnheitsmässige Verstrickung in die Geschichten, Konflikte, Projekte und Sorgen, mithilfe derer wir unser Selbst konstruieren, loszulassen und immer tiefer im Gewahrsein zu verweilen. Durch Nicht-Identifikation mit unseren Gedanken und Emotionen ruhen wir im Gewahrsein selbst und erfahren die natürliche Leichtigkeit des Herzens. Das achtsame Verweilen stärkt unser Samadhi (Konzentration), was den Geist stabilisiert und klärt, sodass Prajna, die Weisheit, aufblitzen kann, die die Dinge so sieht, wie sie sind.
Wir öffnen den Fokus unserer Aufmerksamkeit ganz weit, sodass unser Gewahrsein weit wie der Raum oder der Himmel wird. Buddha sagte:
„Entwickle einen Geist, der so offen ist wie der Raum, in dem angenehme und unangenehme Erfahrungen entstehen und vergehen können, ohne Konflikte oder Leid hervorzurufen. Verweile in diesem Geist wie im weiten Himmel.“
Wir lassen alle Erfahrungen zu, ohne Grenzen, ohne innen oder aussen. Wir lassen unser gewohntes Orientierungsraster, das den Geist als „in unserem Kopf“ verortet, los und spüren, wie der Geist in seinem Gewahrsein offen, grenzenlos und weit ist. Wir lassen unser Gewahrsein sich in alle Richtungen ausdehnen. Wir lassen zu, dass unser Gewahrsein ein Bewusstsein erlebt, das nicht an der vereinzelten Erfahrung des Sehens, Hörens oder Empfindens klebt, sondern das von diesen Bedingungen völlig unabhängig ist – das Unbedingte. Wir ruhen im reinen, zeitlosen und ungeborenen Gewahrsein. Der Meditierende erlebt dies nicht als Ideal, als abgehobene Erfahrung, denn dieses Gewahrsein ist immer zugänglich, immer präsent, absolut befreiend: Es ist der Ort, an dem sich das weise Herz ausruht.
Wir verweilen in dieser Offenheit und lassen die Empfindungen kommen und gehen. Wir lassen die Gedanken und Bilder, Gefühle und Geräusche dahinziehen wie die Wolken im klaren, offenen Raum unseres Gewahrseins. Wir erkennen, dass der offene Raum des Gewahrseins klar ist, durchscheinend, zeitlos und ohne Einschränkungen – er ist offen für alles, ohne sich davon begrenzen zu lassen.
Der Buddha sagte: „O Hochgeborener, erinnere dich des reinen, offenen Himmels deiner wahren Natur. Kehre dahin zurück. Vertraue ihm. Er ist deine Heimat.“
Jack Kornfield
Höre Shariputra, Form ist Leere, Leere ist Form. Form ist nichts anderes als Leerheit, Leerheit ist nichts anderes als Form. Genauso sind Empfindungen, Wahrnehmungen, geistige Formkräfte und Bewusstsein leer von einem abgetrennten Selbst.
„Leere“ wird im Buddhismus nicht als nichts im Gegensatz zu etwas verstanden, sondern als der Urzustand aller Erscheinungsformen. Alle geformten Dinge haben ihren Ursprung im Nicht-Sein. Das heisst, bevor etwas in seiner Form – in seinem spezifischen Sosein – in Erscheinung tritt, existiert es im wahrsten Sinne des Wortes nicht.
Betrachten wir z.B. diverse Formen des Wassers. Wasser zeigt sich bei gewissen Wetterverhältnissen in der Form von Tautropfen. Wird die Luft wärmer, werden die Tautropfen zu unsichtbarem Wasserdampf. Dieser konzentriert sich unter bestimmten Bedingungen zu sichtbaren Wolkenformen. Die Wolken wiederum können in Regentropfen verwandelt werden. Manchmal wird daraus allerdings Schnee oder Eis. Weder die Wolken noch die Regentropfen noch die Tautropfen noch Schnee und Eis existieren unabhängig von ihrer Umgebung oder für immer. Sie alle sind manchmal existent und manchmal nicht. Ihr Da-Sein und ihr Nicht-Sein gehörten zusammen.
Die Begriffe „Leere“ und „Leerheit“ führen leicht zu Missverständnissen. Leere ist nicht als Gegensatz zu Fülle zu verstehen. Leere und Fülle schliessen sich gegenseitig nicht aus, im Gegenteil, sie bedingen sich gegenseitig. So wie der Himmel und die Wolken untrennbar miteinander verbunden sind, so sind die Daseinsformen untrennbar mit dem Nichtsein verbunden. Alle Formen manifestieren die Leere; und die Leere kann sich nur durch die Formen manifestieren. Das eine existiert nicht ohne das andere.
Alle Formen entstehen bedingt und relativ zur Leere. Sobald sich die Bedingungen verändern, verändern sich die Formen. Dies wird deutlich in der Chemie: Es gibt Moleküle, die aus denselben Elementen bestehen, doch je nach Kombination unterschiedliche Stoffe erzeugen, wie z.B. CO und CO2. Die Leere hingegen verändert sich nicht. Sie bildet die Dynamik des Werdens und Vergehens, die das Universum charakterisiert. Diese dynamische Schöpfungskraft, die der Leere innewohnt, wird manchmal mit der göttlichen Schöpfungskraft gleichgesetzt. Sie ist der absolute Aspekt der Existenz, und die Formen sind der relative Aspekt derselben Existenz.
In der gedanklichen Unterscheidung zwischen Form und Leere hängt man immer noch am Konzept der Zweiheit und täuscht sich leicht darüber hinweg, dass Leere und Form in Wirklichkeit eins sind. Form und Leere können nicht getrennt werden. Das eine existiert nicht ohne das andere.
Wenn man selbst zum Schluss kommt: Sinneswahrnehmungen, Gedanken, Vorstellungen und Bewusstsein sind ebenfalls leer, hat man etwas Einsicht in das Wesen der Welt erlangt und lässt sich hoffentlich weniger vom Schein der Dinge täuschen. Dies ist ein erster Schritt in die richtige Richtung der Befreiung, von der das Herzsutra spricht.
Agetsu Wydler Haduch
Die Entstehung von allem wird im Buddhismus als „Ineinandersein“ bezeichnet. Geburt, Wachstum und Verfall jedes Dinges hängen von vielfältigen Ursachen und Bedingungen ab und nicht nur von einer einzigen. Die Gegenwart eines einzigen Dinges (dharma) impliziert die Gegenwart aller anderen Dinge. Der erleuchtete Mensch sieht jedes Ding nicht als abgetrenntes, in sich stehendes Wesen, sondern als Manifestation der gesamten Wirklichkeit. Im zwölften Jahrhundert hat der vietnamesische Mönch Dao Hanh gesagt: Wenn ein Ding existiert, existiert alles, sogar jedes Staubkorn. Wenn ein Ding leer ist, ist alles leer, sogar das gesamte Universum.“
Die Lehre vom Nicht-Selbst zielt darauf ab, deutlich vor Augen zu führen, dass alle Dinge ihrer Natur nach ineinander sind, gleichzeitig zeigt sie uns, dass die Begriffe, die wir von den Dingen haben, die Wirklichkeit nicht angemessen reflektieren und sie nicht wiedergeben können. Die Welt der Begriffe ist nicht die Welt des Wirklichen. Das begriffliche Wissen ist kein vollkommenes Instrument zum Erwerb der Wahrheit. Worte taugen nicht, um die Wahrheit der letzten Wirklichkeit auszudrücken.
Aus „Schlüssel zum Zen“ von Thich Nhat Hanh