Marcel Steiner
Nach innen sind uns keine Grenzen gesetzt. Meister Eckhart lädt uns ein, in unseren innersten Grund zu gehen, weil dort unser Leben ist. Beim Sitzen vollziehen wir die Hinwendung zu diesem Leben, das sich ganz direkt und unmittelbar äussert in jedem Atemzug. Die Einkehr nach innen geschieht nicht als Gegensatz zu und als Flucht vor dem äusseren Leben. In dem Masse, wie ich das Leben in mir erfahre, werde ich es auch im Aussen finden, werde ich nicht nur älter, sondern reife heran zu dem Menschen, der ich im Tiefsten schon bin … so lässt mich jeder Atemzug reifer werden …
Das menschliche Dasein ist ein Gasthaus.
Jeden Morgen ein neuer Gast.
Freude, Depression und Niedertracht –
auch ein kurzer Moment von Achtsamkeit
kommt als unverhoffter Besucher.
Begrüsse und bewirte sie alle!
Selbst wenn es eine Schar von Sorgen ist,
die gewaltsam dein Haus
seiner Möbel entledigt,
selbst dann behandle jeden Gast ehrenvoll.
Vielleicht bereitet er dich vor
auf ganz neue Freuden.
Dem dunklen Gedanken, der Scham, der Bosheit –
begegne ihnen lachend an der Tür
und lade sie zu dir ein.
Sei dankbar für jeden, der kommt,
denn alle sind zu deiner Führung
geschickt worden aus einer anderen Welt.
Rumi, persischer Mystiker (1207-1273)
Dieser Text von Rumi bringt die Offenheit zum Ausdruck, die wir beim Meditieren kultivieren. Einziger Unterschied: Wir bewirten die Gäste nicht, die da auftauchen als Gedanke, Empfindung, Urteil. Sie dürfen da sein, wir bieten ihnen aber nicht noch den Kaffee und Kuchen unserer Meinungen und Kommentare an. Wir ekeln sie aber auch nicht hinaus.
Unsere Aufmerksamkeit gilt unserem Atem, komme, was wolle
… je neu … je jetzt …
Aus: „Tiefe Stille – Weiter Raum: Schweige-Impulse für jeden Tag“
von Marcel Steiner. Kösel, 2009
Wer präsent ist,
wird zum Präsent –
für die Welt …
Erlaube dir auch heute,
ganz bewusst anzukommen
bei dir in deinem Leib …
nimm ihn wahr, so wie er sich dir heute zeigt …
und sage innerlich Ja zu ihm,
indem du dich ganz in ihn einlässt …
er ist dir anvertraut, solange du lebst …
Im Leib zu sein, heisst, präsent zu sein …
denn der Leib kann nicht
aus der Gegenwart heraustreten.
Nur unser Geist kann in Vergangenheit
und Zukunft herumschweifen,
der Leib aber ist immer in der Gegenwart.
Darum: Bist du ganz Leib und ganz Atem,
bist du ganz gegenwärtig.
Im Englischen gibt es den Ausdruck
„to be present“ und „to be a present“,
also „gegenwärtig sein“
und „ein Geschenk sein“.
Nur wer bei sich ist,
kann auch bei anderen sein.
In dem Mass, in dem ich bei mir zu Hause bin,
kann ich auch für andere ein Zuhause sein.
Meditieren heisst in diesem Sinn üben,
bei sich zu Hause zu sein,
ganz unabhängig von den äusseren
und inneren Umständen …
da sein im Hier und Jetzt,
ganz präsent …
Aus: „Tiefe Stille – Weiter Raum: Schweige-Impulse für jeden Tag“
von Marcel Steiner. Kösel, 2009
Die Idee ist nicht, beim Meditieren etwas loswerden zu wollen, sondern Freundschaft zu schliessen damit. Pema Chödrön
Beim Meditieren geht es nicht darum, ein anderer / eine andere zu werden, sondern darum, Freundschaft zu schliessen mit dem Menschen, der ich bin … mir zu erlauben, der Mensch zu sein und zu werden, der ich bin. Entscheide dich jetzt, bei dir zu bleiben, dich nicht aus deinem Herzen zu entlassen … Indem du mit dir sitzt, lernst du, zu dir zu stehen und Freundschaft zu schliessen mit dem Leben, dem eigenen und dem der anderen …
Aus: „Tiefe Stille – Weiter Raum: Schweige-Impulse für jeden Tag“
von Marcel Steiner. Kösel, 2009
Wenn man auf nichts mehr zählen kann,
muss man mit allem rechnen.
Jules RenardOft halten wir Ausschau nach Menschen und Dingen, auf die wir uns verlassen können, auf die wir zählen können.
Beim Meditieren lassen wir alles Vertraute hinter uns, auch uns selbst mit all unseren Vorstellungen und mit unseren Geschichten, die wir uns ständig erzählen. Wir zählen auf nichts mehr, zählen höchstens noch unseren Atem. Das hat nichts mit Resignation, Misstrauen oder Verbitterung zu tun. Im Gegenteil: Diese Haltung bewirkt eine totale Offenheit und Gegenwärtigkeit. Indem wir auf nichts mehr zählen, beginnen wir mit allem zu rechnen und nehmen an, was immer sich zeigt …
Aus: „Tiefe Stille – Weiter Raum: Schweige-Impulse für jeden Tag“
von Marcel Steiner. Kösel, 2009
Meditieren heisst, in Kontakt kommen mit der grenzenlosen Weite,
die immer da ist. In ihr ist Raum für buchstäblich alles. Da gibt es
kein entweder oder. Alles darf sein, hat seinen Platz… Unser
menschliches Herz ist dieser weite Raum…in ihm ist darum auch
Platz für uns selbst mit all unseren Widersprüchen… so können
wir zur Ruhe kommen bei uns selbst, gerade dann, wenn wir uns
(da)sein lassen… Dann besteht kein Grund mehr dafür, uns oder
irgendeinen Teil von uns aus unserem Herzen zu verbannen…
erlaube dir also, dich ganz der Weite deines Herzens
anzuvertrauen,
nimm dich dir zu Herzen und ruhe darin aus…
Atemzug um Atemzug…
Marcel Steiner
Meditieren heisst,
dem unruhigen Geist
Heimat zu geben im eigenen Atem.
Meist verstehen wir Heimat als einen äusseren Ort. Oder wir suchen so etwas wie Heimat bei äusseren Dingen. Auch Worte – oft sind es Gedichte – können uns Heimat sein. Und natürlich gibt es für uns auch Menschen, die uns Heimat sind. Über dieser Sehnsucht und Suche nach Heimat vergesssen wir ganz, dass wir auch uns selbst Heimat sein dürfen. Mit niemandem verbringen wir so viel Zeit wie mit uns selbst! Unser Leib ist darum unsere erste Heimat. Erlaube dir also, dich ganz zu beheimaten in deinem Leib. Setze dich in dich selbst hinein und der Ruhe in dir aus …
Und nun wende dich deinem Atem zu. Ist dein Leib sozusagen dein Heimatland, so ist der Atem dein Heimatort, noch stärker, der Ort, an dem du je neu geboren wirst … Du brauchst nicht auf eine bestimmte Art und Weise zu atmen. Vertraue deinem Atem, dass er weiss, wie er jetzt atmen muss … folge ihm einfach … besser, sei eins mit ihm … und, wenn immer dein Geist sich von ihm entfernt, bringe ihn sanft, aber bestimmt zurück zu deinem Atem … er ist immer da und wird dich stets von Neuem empfangen … er ist deine Heimat, aus der du nie verstossen wirst, in die du immer wieder heimkehren kannst … nie wird er dir einen Vorwurf machen, wieso du schon wieder abgeschweift bist!
Solange du lebst,
ist dir dein Atem bergende Heimat …
gerade auch jetzt …
darum kehre ein bei ihm …
sei Atem …
sei …