Der Begriff der Leerheit (sunyata) im Buddhismus ist vom Begriff des Nicht-Ich abgeleitet. Man muss immer gleichzeitig fragen: „Leer wovon?“ Leerheit bedeutet in diesem Zusammenhang das Leersein einer abgetrennten, unabhängigen Entität namens Selbst. Jedoch leer zu sein von einem abgetrennten Selbst bedeutet, voll von allem anderen zu sein!
Der Bodhisattva Avalokita sagt, dass ein Stück Papier leer ist, und er meint damit, dass es leer von selbständiger Existenz ist. Es kann nicht durch sich selbst sein. Es existiert nur durch die wechselseitige Durchdringung. Betrachten wir es in dieser Weise, so sehen wir, dass alles gleichzeitig in dem Stück Papier enthalten ist. – Zeit, Raum, die Erde, der Regen, die Mineralien der Erde, der Sonnenschein, die Wolke, der Fluss, die Hitze. Das Stück Papier ist, weil alles andere ist. Es ist ohne eigenständiges Selbst. Doch leer von einem eigenständigen Selbst zu sein bedeutet, erfüllt zu sein von allem. Also sagt Avalokita uns, dass Form leer ist. Form ist leer von einem eigenständigen Selbst, aber sie ist erfüllt von allen Phänomenen des Kosmos.
Es gibt keinen anderen Weg etwas zu erkennen, als dieses Etwas zu ergreifen und eins damit zu sein. Wir müssen das Stück Papier durchdringen, die Wolke sein, der Sonnenschein sein. Wenn wir es so erfassen und alles sind, was in ihm ist, wird unser Verstehen des Stücks Papiers vollkommen sein.
Es gibt eine alte Geschichte über ein Salzkorn, das wissen wollte, wie salzig das Meer eigentlich ist. Um dies in Erfahrung zu bringen, sprang es ins Meer und wurde eins mit dem Wasser. Auf diese Weise erlangte das kleine Salzkorn vollkommenes Verstehen.
(Thich Nhat Hanh)
Als der Buddha unter dem Bodhi-Baum Erleuchtung erlangte, erkannte er, dass bedingtes Entstehen der Funktionsweise des gesamten Universums zugrunde liegt. Bedingtes Entstehen bedeutet, dass alles durch Bedingungen erzeugt wird und nichts eine eigene, unabhängige Existenz besitzt. Alles ist mit allem anderen verbunden, und alles wird durch alles andere bedingt.
Das Universum kann nur deshalb existieren, weil alle Erscheinungen leer sind. Wären sie es nicht, könnte nichts entstehen oder sich ändern. Sein und Leerheit sind zwei Seiten derselben Sache. Ohne Leerheit gäbe es kein Leben und keinen Tod, keine Form, keine Formlosigkeit, keine Geburt und keine Veränderung. Es muss Leerheit geben, bevor es Sein geben kann.
Leerheit ist wie die Zahl Null. Die Natur von Null ist Leere, aber wenn wir eine Null hinter eine Eins stellen, erhalten wir Zehn. Wenn wir eine weitere Null hinzufügen, erhalten wir Hundert. Die Leere ist genauso. Sie erscheint nutzlos, aber sie enthält das ganze Universum und fasst es zusammen.
Buddha lehrte, dass das entscheidende Heilmittel für jegliche Gier, jeglichen Zorn und jegliche Verblendung ist, zu verstehen, dass diese geistigen Zustände grundsätzlich leer sind. Sie haben keine solide Eigennatur. Er sagte, dass wir, um uns von Verblendung zu heilen, erkennen müssen, dass „alles was du erfasst, leer ist. In der Leerheit gibt es nichts, was erfasst werden könnte. Es ist die Natur der Leere, dass es in ihr überhaupt nichts gibt, was erfasst werden kann.“
„Wenn der Wind sich durch die Leerheit bewegt, bewegt sich nichts wirklich.“ (Blütenschmucksutra)