Das Geheimnis, wie wir mit einem Leben reich an Bewusstheit und Sensibilität beginnen können, liegt in unserer Bereitschaft, anwesend zu sein. Unser Wachstum zu bewussten, wachen Menschen hängt nicht so sehr von grandiosen Gesten und sichtbarer Enthaltung als vielmehr von der liebevollen Aufmerksamkeit ab, die wir den kleinsten Details im Leben schenken. Jede Beziehung, jeder Gedanke, jede Geste wird durch die ihnen gewidmete uneingeschränkte Aufmerksamkeit mit Bedeutung gesegnet.
In den komplexen Verschachtelungen unseres Denkens und Lebens vergessen wir leicht die Kraft der Aufmerksamkeit, und ohne Aufmerksamkeit treiben wir nur an der Oberfläche der Existenz dahin. Allein Achtsamkeit ist es, die uns befähigt, ein Vogelgezwitscher wirklich zu hören, aufs tiefste die Herrlichkeit eines Herbstblattes zu sehen, das Herz eines anderen zu berühren und berührt zu werden. Wir müssen voll da sein, um etwas oder jemanden von ganzem Herzen zu lieben. Wir müssen im gegenwärtigen Augenblick ganz wach sein, wenn wir empfangen und auf das darin zu Lernende reagieren wollen.
Vielleicht stellen wir uns unser Leben als endlose Strecke in der Zeit vor, die bis jenseits unvorstellbarer Horizonte reicht. Wir tragen die Erinnerungen unserer Vergangenheit
genauso mit uns wie die Zukunftsphantasien und verlieren uns leicht in unserer Beschäftigung mit ihnen. Wir reden uns ein, wir hätten Zeit, die Öffnung unserer Herzen, unsere Suche nach Verbundenheit auf morgen zu verschieben. Wenn wir uns an die Unberechenbarkeit des Lebens erinnern, kann die Unsicherheit unserer Tage die Qualität unserer Beziehung in jedem Moment um den Sinn für Dringlichkeit und Leidenschaft bereichern. Wo sonst könnten wir mit Liebe und Weisheit beginnen, wenn nicht hier, wann sonst können wir wahrhaft beginnen , unser Herz zu öffnen, wenn nicht jetzt?
Aufmerksamkeit ist Sensibilität, ist Verbindlichkeit. Die Achtsamkeit, die wir diesem Moment schenken, enthüllt uns die Freuden und Kümmernisse unserer Welt. Weisheit inspiriert uns nicht vor dem Schmerz zurückzuweichen, sondern uns zu fragen, wie wir uns an der Heilung unserer Erde, unserer Gemeinschaften, unserer Welt beteiligen können. Oftmals entdecken wir, wie die grösste Heilung in der kleinsten Geste liegt. Eine liebende Berührung, ein Wort der Anteilnahme, das Geschenk eines mitfühlenden Herzens erlauben uns, über die Begrenzung unserer persönlichen Welt hinauszuwachsen.
Achtsamkeit ist auch das Mittel, das uns innerlich mit den wechselnden Rhythmen unserer eigenen Gedanken, Gefühle und Sehnsüchte in Verbindung bringt. Ohne Urteil oder Widerstand nach innen zu hören, ist der Beginn der Selbsterkenntnis und des Sich-selbst-Verstehens – die Quelle der Weisheit. Eine derartige Aufmerksamkeit kann nur in dem Moment beginnen, in dem wir uns gerade befinden.
Aus: „Geschichten, die der Seele gut tun“ von Jack Kornfield und Christina Feldman