Um wirklich im gegenwärtigen Moment zu leben, müssen wir Achtsamkeit entwickeln für das, was in uns und um uns geschieht. Wir beginnen damit, unseren Atem bewusst wahrzunehmen, indem wir ihm aufmerksam folgen. Wir atmen ein und atmen aus und wissen, dass wir einatmen und ausatmen. Thich Nhat Hanh
Ein Atemzug genügt. Und schon haben Sie Milliarden von Atomen aus dem Universum aufgenommen. Uralte Bausteine diese Welt, die sich bis in die hintersten Winkel Ihres Körpers verteilen und dafür sorgen, dass Sie leben können. Beim Ausatmen geben Sie ebenso viele Atome wieder ab. Diese werden von den Winden über die ganze Erde verbreitet.
Dieser Austausch kennt keine Grenzen, weder geografische noch zeitliche. Die Luft, die Sie einatmen, enthält Atome von Männern und Frauen aus allen Zeiten und Zonen. Vom ersten Menschen in der afrikanischen Steppe genauso wie vom Rüpel nebenan, den Sie irrtümlicherweise für den letzten Menschen halten. Die Luft verbindet sämtliche Lebewesen, lässt niemanden aus und gehört allen. Niemand kann sie für sich behalten, alle müssen sie weitergeben. Mit jedem Atemzug wandern auch Atome durch Ihren Körper, die einst Abraham, Buddha, Jesus und Mozart gehört haben. Eine aufregende Vorstellung! Atmen Sie noch? Oder verschlägt Ihnen diese Tatsache buchstäblich den Atem? Atemberaubend ist dieses luftige Netzt jedenfalls schon. Seine Dimensionen sind nicht zu fassen. Zudem reicht es Jahrmilliarden weit zurück in die Vergangenheit. Seine Moleküle und Atome wurden einst von explodierenden Sternen ins All geschleudert.
Der Atem bildet die Brücke zwischen innerer und äusserer Welt. Das Verb atmen ist sprachgeschichtlich verwandt mit dem Sanskrit-Wort Atman, was übersetzt Seele und Hauch bedeutet. Atman bezeichnet in der indischen Philosophie den unsterblichen Wesenskern eines Menschen, der identisch ist mit Brahman, dem Absoluten. Jeder Atemzug verbindet uns mit diesem Kern – in uns, aber auch in allen anderen Lebewesen.
Atmen ist praktizierte Spiritualität. Der Philosoph Romano Guardini sagte: „Der Atem ist jener Rhythmus, worin der Mensch mit der Weite des Raumes, mit dem Meer der Luft, mit dem umgebenden Ganzen im Zusammenhang steht“.
Indem wir unserem Atem folgen und die Achtsamkeit auf die Atmung mit unseren alltäglichen Aktivitäten verbinden, kann der Strom störender Gedanken allmählich zur Ruhe kommen und wir können das Licht des Erwachens entzünden. Jedes Ausatmens und jedes Einatmens gewahr zu sein, ist etwas wunderbares, und jeder kann dies üben. Thich Nhat Hanh
Wenn wir dem Atem zuschauen, ohne ihn irgendwie zu beeinflussen, dann spüren wir: Nicht ich atme – es atmet mich.
Ein und aus, ein und aus. Rund zwanzigtausend Atemzüge sind es pro Tag. Zwanzigtausend Gelegenheiten, zur Ruhe zu kommen und sich mit den anderen Menschen, den Tieren und den Pflanzen, der Erde und dem Kosmos zu verbinden.
Manchmal liegt das Wesentliche direkt vor beziehungsweise unter unserer Nase.
Lorenz Marti
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