Wenn wir dem Körper, den Sinnen, dem Geist, dem Bewusstsein volle Aufmerksamkeit schenken, enthüllen sich uns eine Reihe von Grundmustern und Gesetzmässigkeiten. Als erstes die Tatsache, dass alles entsteht, vergeht und sich ständig verändert. Mit den Worten Ryokans:
„Unterwegs zum Betteln an diesem Frühlingstag hielt ich an, um Veilchen zu pflücken. Oh! Schon ist der Tag vorbei!“
„Das Leben ist gleich einem Tautropfen, Flüchtig und leer. Dahin sind meine Jahre. Und nun, zittrig und schwach, muss ich vergehen.“.
Haben wir die Veränderlichkeit und Vergänglichkeit erkannt, verstehen wir auch eine daraus folgende Gesetzmässigkeit: alle diese Dinge und Verhältnisse, aber auch die Menschen rund um uns sind nicht in der Lage, uns bleibende Befriedigung zu verschaffen. Befriedigung ist zwar möglich, doch auch sie hat ihre Zeit und vergeht.
Wenn wir noch genauer hinschauen, erkennen wir eine dritte Gesetzmässigkeit: Die grundlegende Substanzlosigkeit aller Erscheinungen und aller Erfahrungen des Daseins. Weder in uns selber noch irgendwo im Universum finden wir eine unveränderliche, unabhängige, in sich selbst existierende Essenz oder Wesenheit, von der wir behaupten können: das ist mein letztendlicher Kern, oder das ist die zentrale, unveränderliche Wesenheit des Daseins. Der Buddha verglich das Wesen des Daseins mit einer Blase in einem Fluss, einem Wetterleuchten in einer Sommerwolke, einem flackernden Licht, einem Phantom, einem Traum.
Weil wir die Gesetzmässigkeiten des Daseins nicht klar erkennen und verstehen, identifizieren wir uns laufend mit unseren Erfahrungen und reagieren mit bestimmten Verhaltensmustern: Festhalten, Widerstand oder Desinteresse. Da ist eine grosse Diskrepanz zwischen der Art, wie das Universum funktioniert, und unserem Verhalten; zwischen den Grundtatsachen des Lebens und der Art, wie wir damit umgehen. Ignoranz, Blindheit und Nichtverstehen kennzeichnen unsere Haltung gegenüber den Gegebenheiten der Wirklichkeit.
Entweder verbringen wir unser ganzes Leben mit dem Versuch, das Universum so zu verändern, wie wir es gerne hätten. Oder wir verändern uns selbst. Noch besser, wir verändern unsere Haltung gegenüber dem Leben: von einer Haltung, die durch Kampf und Krampf gekennzeichnet ist, zu einer solchen des Sich-Einstimmens. Anstatt zu versuchen, den Fluss zu stoppen, lernen wir mit zu schwimmen. Anstatt darauf aus zu sein, die Melodie des Universums in unserem Sinne umzustimmen, lernen wir, sie mitzusingen und in ihrem Rhythmus zu tanzen.
Seng-ts`an, ein chinesischer Meister, drückte dies so aus:
„Der vollkommene Weg ist nicht schwierig für die, welche keine Vorlieben haben. Wenn Hassen und Haften wegfallen, wird alles klar und unverhüllt. Eine Haaresbreite Unterscheidung jedoch – und Himmel und Erde sind weit voneinander getrennt. Wer die Wahrheit erkennen will, sei nicht dafür und nicht dagegen. Der Weg ist vollkommen wie der weite Raum. Nichts ist zu wenig und nichts zu viel. Nur wegen unserer Neigung, anzunehmen oder zu verwerfen, sehen wir die wahre Natur der Dinge nicht.“
2.12.2011 Klar sehen – offen sein von Fred von Allmen